„Ikigai“: Der Schlüssel zu Gesundheit und Lebensfreude bis ins Alter

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„Ikigai“: Der Schlüssel zu Gesundheit und Lebensfreude bis ins Alter

Was wir von den Hundertjährigen in Okinawa lernen können

Seit fast 30 Jahren praktiziere und unterrichte ich Shiatsu, nachdem ich meinen vorherigen Beruf als Lehrerin freiwillig an den Nagel gehängt hatte. Ich war während meiner Zeit an einer Kölner Gesamtschule oft krank und überlastet. Als ich in einer Zeitung einen Artikel über Chinesische Medizin in Verbindung mit Shiatsu las, wusste ich sofort, dass ich das lernen wollte, ließ mich vom Schuldienst beurlauben und stürzte mich ins Abenteuer.

Dieses Abenteuer dauert immer noch an. Heute bin ich gesünder und vitaler als vor 30 Jahren und übe meinen Beruf als Shiatsu- Lehrerin gern aus. Auch ein möglicher Eintritt ins Rentenalter interessiert mich noch nicht, da mir meine Arbeit ja Spaß macht. Den Grund für diese Veränderung in meinem Leben habe ich vor einigen Wochen in einem Shiatsu-Basiskurs von einem Kursteilnehmer mit einem Begriff benannt bekommen: „Ikigai“.

Dieser junge Mann ist Student der Ost­asien­-Wissenschaften, der seine Bachelor-Arbeit über die Bewohner der japanischen Insel  Okinawa geschrieben hat. Diese sind berühmt für ihre Langlebigkeit bei  guter Gesund­heit. Die  Ursache dafür liegt einmal in der gesunden Lebensführung (Ernährung, Bewe­gung), aber vor allem in einem Phänomen, das in Japan „Ikigai“ heißt, was man mit Lebenselixir oder Lebensaufgabe übersetzen kann. Diese Hundertjährigen der Insel Okinawa wohnen in ihrer gewohnten Umgebung, also nicht im Altersheim wie so oft bei uns. Sie sind voller Energie und tun das im hohen Alter, was sie immer schon gern getan haben: Im Garten arbeiten, Karate ausüben, sich um ihr Geschäft oder ihren Beruf kümmern, Zeit mit den Kindern und Enkeln verbringen, ihre sozialen Kon­takte pflegen, ihrem Hobby  und ihrer spirituellen Praxis nachgehen…

Natürlich ist auch das Leben dieser Hundertjährigen nicht endlos, aber wenn sie sterben, dann an hohem Alter und nicht an Krankheit. Die Krankheiten, die bei uns das Leben im Alter begleiten und prägen wie Bluthochdruck, Diabetes, Übergewicht und Gelenkbeschwer­den, sind in Okinawa weitgehend unbekannt. Nun könnte man meinen, dass das an den Genen liegt, dass diese Menschen vom Schicksal gesegnet sind. Tatsächlich ist es aber so, dass in Japan alle 5 Jahre der Gesund­heitszustand der Bevölkerung untersucht wird. Im Jahr 2000 fand man heraus, dass die über 60-jährigen auf Okinawa gesünder waren als die jüngeren Generationen. Der „Sieges­zug“ von westlicher Ernährung mit Pizza, Nudeln, Brot und Fastfood machte sich bemerkbar, die sitzende Tätigkeit im Beruf mit wenig Bewegung kam dazu. Die ursprüngliche Insel-Ernährung mit viel Obst und Gemüse, Soja, Algen, Fisch und nur wenig Fleisch war verdrängt worden, Fettleibigkeit und Wohlstandskrankheiten waren auf dem Vormarsch. Zum Glück erkannte man diesen Mechanismus und steuert dagegen mit Aufklärung, die schon in der Schule beginnt.

Gesunde Ernährung heißt die erste der Fünf Säulen der Langlebigkeit, die zweite Säule ist Bewegung und Sport. In Okinawa ist damit vor allem Karate gemeint, das dort im 19. Jahrhundert seine Anfänge nahm und auch in der Schule unterrichtet wird. Karate ist Teil der nationalen Identität und wird bis ins hohe Alter ausgeübt. Es gilt als charakterbildend und als ein Weg zur Selbsterkenntnis.

Als dritte Säule, auf denen die Langlebigkeit der Bewohner von Okinawa beruht,  kommt wieder „Ikigai“ ins Spiel, die Lebensaufgabe oder das Lebenselixir. Die Frage, die jeder sich stellen kann, lautet: „Wofür brennst du in deinem Leben? Und machst du das, wofür du brennst?“ Die Bewohner von Okinawa arbeiten auch im hohen Alter, weil sie das, was sie machen gern tun. Sie fiebern nicht dem Wochenende oder dem Rentenalter entgegen, wo sie dann „endlich“ ihren eigentlichen Neigungen nachgehen können. Was für eine traurige Verschwendung von Talenten, wenn man sie nur in seiner „Frei“zeit ausleben kann!

Die vierte Säule für Langlebigkeit ist Gemeinschaft. Vereinzelung und Verein­samung der Menschen ist auf Okinawa unbekannt, der tägliche Schwatz unter Freunden und Nachbarn ist ein fester Bestandteil des Tages. Jeder hilft jedem. Ein wichtiger Leitsatz lautet: „Jeder ist für sich selbst verantwortlich, aber jeder ist auch für die Gemeinschaft verantwortlich.“ (Rahn-Huber S. 125)

Die fünfte Säule schließlich ist Spiritualität, der „Draht ins Paradies“ (Rahn-Huber S. 131). In jedem Haus in Okinawa gibt es einen Altar zu Ehren der Ahnen. Man erweist den Ahnen mit diesem Altar Respekt, bittet um ihren Beistand in Fragen des täglichen Lebens und gibt seine Sorgen und Nöte an sie ab im Vertrauen auf ihre Unterstützung.

Das das Alter einen so hohen Stellenwert hat, kann man sich auf diese Zeit seines Lebens freuen und muss sie nicht als Phase betrachten, in der man am liebsten die Uhr anhalten möchte, wie das in unserer Gesellschaft so oft der Fall ist.

Wie kann man die Erkenntnisse aus Okinawa für das eigene Leben nutzen? Für mich habe ich diese Wende vor fast 30 Jahren vollzogen, indem ich mich entschied, Shiatsu und Chinesische Medizin zu lernen. Shiatsu ist eine japanische Volksmedizin, die in Deutschland vor 30 Jahren noch nahezu unbekannt war. Mit der Verbindung von japanischer und chinesischer Medizin berühre ich alle fünf Säulen der Lang­lebigkeit.

Die erste Säule, die Ernährung nach den Fünf Elementen hat mir deutlich gemacht, wie stark „gesunde“ Ernährung von der eigenen Konstitution abhängig ist. Was für mich gut ist, muss für andere nicht auch gut sein. Daher wird die Ernährung mit entsprechenden Nahrungsmitteln auf die persönlichen Bedürfnisse angepasst.

Die zweite Säule, die Bewegung, wird vor allem durch die Ausübung von Shiatsu erfüllt. Wenn ich Shiatsu praktiziere, bewege ich mich auf dem Boden auf einer Matte um den Menschen herum, den ich behandele, indem ich Finger- oder Handballendruck auf seine Meridiane anwende. Ich bewege das Energiesystem des anderen Menschen, aber auch mein eigenes. So erstaunlich es sich anhören mag: Indem ich dem anderen Menschen etwas Gutes tue, tue ich es vor allem auch mir selbst. Mein Körper bleibt beweglich und geschmeidig, mein eigenes Meridiansystem wird ausgeglichen. Im Idealfall fühle ich mich nach einer Behandlung genauso viel besser wie der Mensch, an dem ich „gearbeitet“ habe.

Die dritte Säule, „Ikigai“, wird ebenfalls von Shiatsu geprägt. Ich unterrichte es mit Feuer und Leidenschaft, es macht mir Spaß, dies zu vermitteln, die Schönheit der Bewegung zu genießen, den Energiefluss zu spüren. Es freut mich, wenn meine Schüler das Feuer aufnehmen und mit Begeisterung von ihren Erfahrungen berichten, die sie mit anderen Menschen in ihren Behandlungen machen.

Shiatsu ist für mich die perfekte Art, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen und zu bleiben und damit die vierte Säule zu leben, die Gemeinschaft. Unser Leitsatz, mit dem wir vor vielen Jahren die Shiatsu-Ausbildungen begonnen haben, lautete: „Shiatsu gehört in jedes Wohnzimmer, auf jeden Teppich.“ Shiatsu war ursprünglich in Japan die Volksmedizin, die Kinder schon in der Schule lernten. Shiatsu kann zu einem neuen Beruf führen (und leistet das auch für Viele), ist aber auch als erfüllende Tätigkeit in der Freizeit geeignet. Es braucht wenig, um es zu praktizieren: Ein bisschen Platz in einem Raum am Boden, eine weiche Unterlage und ein bisschen Zeit, die man für sich und den Menschen nimmt, den man behandelt. Es ermöglicht einen intensiveren Kontakt in der Familie ohne Worte, eine körperliche Berührung, die gut tut und heilsam sein kann. Diese Berührung kann Menschen wieder zusammen bringen, den Zusammenhalt stärken, man kann sich zugehörig und geborgen fühlen. Die Ausübung ist an kein Alter gebunden, jeder kann es lernen, der sich gern bewegt und einen anderen Menschen berührt.

Die fünfte Säule, die spirituelle Praxis,  kommt sozusagen mit den anderen Säulen zusammen. Beim Geben von Shiatsu bin ich im Hier und Jetzt, verbunden mit der Energie des Universums, die durch meine Hände fließt. Shiatsu ist für mich Meditation, eine Begegnung ohne Worte, eine achtsame Berührung von Herz zu Herz.

 

 

Anmerkungen:

Zu diesem Artikel inspiriert worden bin ich durch meinen Shiatsu-Schüler Thilo Böwer, der mir seine Bachelor-Arbeit zur Verfügung gestellt hat:

„Okinawa gōjū-ryū Karate. Über das Selbst­verständnis einer okinawanischen Kampf­kunst zwischen budō, Tradition und Sport­lich­keit.“

Bachelorarbeit der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Juli 2015

Empfehlenswert ist auch das Buch von Ulla Rahn-Huber: So werden Sie 100 Jahre alt. Das Geheimnis von Okinawa. MVG-Verlag 2009

Ramita Keienburg
praktiziert Shiatsu seit 1987. Sie leitet die Praktiker-Trainings in Düsseldorf und Köln-Dellbrück und Teile der Grundausbildung in ShenDo Shiatsu in beiden Städten.